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Das Projekt AI.CAN | Civic Coding im Gespräch - Civic Coding – Innovationsnetz KI für das Gemeinwohl

Civic Coding im Gespräch: Gewässerschutz durch dezentrale Datensammlung: Das Projekt AI.CAN

In unserer Interviewreihe „Civic Coding im Gespräch“ werfen wir einen Blick hinter die Kulissen von gemeinwohlorientierten KI-Projekten. Projektteams geben Einblicke in ihre Arbeit und teilen Herausforderungen, Learnings und Erfolge. Den Anfang macht das Projekt AI.CAN – wir haben mit dem Projektleiter Alexander Groddeck gesprochen.

Über das Projekt AI.CAN

AI.CAN steht für „Artificial Intelligence Citizen Science Aqua Network“. Das Modellprojekt ist ein deutsch-polnisch-tschechisches bürgerwissenschaftliches Netzwerk, das sich für Gewässerökologie und -qualität an der Oder einsetzt. Projektleiter Alexander Groddeck ist seit 20 Jahren in der Nachhaltigkeitsbildung tätig und absolvierte 2023 eine Weiterbildung zum Umwelt- und Klimaschutzmanager. Parallel dazu startete er das Projekt AI.CAN.

Weitere Infos zu AI.CAN findest du auch in unserer Projektlandkarte.

Wie ist das Projekt entstanden und welches Problem soll damit gelöst werden?

Das Projekt ist aus der Bürgerinitiative SaveOderDie heraus entstanden, die sich nach dem Fischsterben in der Oder im Jahr 2022 formiert hat. Ich wohne selbst seit fünf Jahren im Oderbruch und diese Katastrophe war ein riesiger Schock, der viel Aktivismus und Engagement ausgelöst hat, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Ungefähr 50 Prozent aller Lebewesen im Fluss mussten durch die von Menschen verursachten Verunreinigungen ihr Leben lassen. Ein derartiges Fischsterben hatte es bisher in der Region noch nicht gegeben, und wir wussten anfangs nicht, ob wir überhaupt noch in der Oder baden oder das Wasser trinken können. Deshalb haben wir uns damit beschäftigt, wie man das Monitoring der Wasserqualität verbessern, etwas gegen Wasserverschmutzung tun und dem Fluss die notwendige Zeit zur Regeneration geben kann. Dafür nutzen wir Künstliche Intelligenz und setzen auf Beteiligung der Bürger*innen.

Wie soll das Monitoring des Gewässers konkret umgesetzt werden?

Wir nutzen verschiedene Datenquellen, darunter offizielle Daten von stationären Messstationen und Daten von Bürger*innen, die direkt vor Ort Messungen mit mobilen Messboxen durchführen. Diese Boxen sind mit Sensoren ausgestattet, die Parameter wie Wassertemperatur, pH-Wert und elektrische Leitfähigkeit und den Sauerstoffgehalt messen und die Daten direkt an unsere zentrale Datenbank übermitteln. Dort werden sie mit Daten aus den stationären Messstationen kombiniert. Durch die Kombination von chemischen Parametern und physikalischen Eigenschaften des Wassers können wir genaue Aussagen über die Wasserqualität treffen.

Die Herausforderung besteht darin, diese riesigen Datenmengen effizient zu verarbeiten und sinnvolle Schlussfolgerungen zu ziehen. Hier kommt die KI ins Spiel: Sie kann große Datenmengen in kürzester Zeit analysieren und uns so helfen, frühzeitig auf Probleme zu reagieren. Unser Ziel ist es, dass eine Sensor-Community entsteht, die z. B. in koordinierten Aktionen an einem bestimmten Tag zu einer festgelegten Uhrzeit Messungen durchführt und so ein Gesamtbild erzeugt.

Welche Herausforderungen gibt es bei der Nutzung von Daten aus solchen unterschiedlichen Quellen?

Die Herausforderung ist zunächst, sich das Ganze als Laie zu erschließen und sich in die Datengrundlagen einzuarbeiten. Einige Datensätze kommen von stationären Messstationen, die es unter anderem in Frankfurt/Oder gibt und an denen tages- und stundenaktuell die Daten von 20-30 Parametern gemessen werden, andere aus Bürgerinitiativen. Die offiziellen Messdaten werden jedoch oft nicht interpretiert. Zum Beispiel kann man den Salzgehalt oder die elektrische Leitfähigkeit des Wassers messen, aber was bedeutet das? Da stehen Werte wie 2500 Mikrosiemens pro Zentimeter, doch als Laie weiß ich nicht, ob das ein normaler Wert ist oder ob das problematisch ist. Wir müssen diese Daten also selbst interpretieren und mit anderen Quellen vergleichen, um ein klares Bild der Wasserqualität zu bekommen.

Was macht ihr mit den Daten und welche KI-Technologie kommt dabei zum Einsatz?

Wir werden wahrscheinlich eine komplett neue KI aufsetzen, die darauf trainiert wird, Muster in den Wasserqualitätsdaten zu erkennen, die aus unterschiedlichen Perspektiven und Quellen gewonnen werden. Die KI soll anhand historischer und aktueller Daten Prognosen erstellen und auf potenzielle Probleme hinweisen. Ein Beispiel: Wenn die KI erkennt, dass der Salzgehalt in bestimmten Abschnitten des Flusses steigt, kann sie vorhersagen, ob dies zur gefährlichen Algenblüte einer giftigen Salzwasseralge führen könnte wie bei der Katastrophe 2022. Wir möchten eine Modellierung der Wasserqualitätsdaten entwickeln, die nicht nur auf momentane Zustände eingeht, sondern auch langfristige Trends und Prognosen liefert. Diese Art Frühwarnsystem kann uns helfen, Umweltkatastrophen wie das Fischsterben von 2022 zu verhindern.

Mit welchen Partnern arbeitet ihr für das Projekt zusammen und wie seid ihr auf der Suche nach ihnen vorgegangen?

Wir sind in Kontakt mit weiteren lokalen Initiativen getreten, die sich nach der Oderkatastrophe gegründet haben und streben eine Kooperation mit verschiedenen NGOs und wissenschaftlichen Institutionen an, darunter das Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). Auf polnischer Seite haben wir ebenfalls wichtige Partner wie den Anglerverband. Die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen und Behörden wie dem Bundesverkehrsministerium ist ein weiterer wichtiger Aspekt, um langfristig eine Veränderung zu bewirken.

Einer meiner ersten Wege führte mich außerdem zur KI-Ideenwerkstatt, wo ich mich mit Stefan Ullrich ausgetauscht habe, der mir die Sensor-Community für Luftmessung aus Stuttgart als Best-Practice-Beispiel genannt hat. Das war sehr wertvoll, da das Projekt ziemlich analog zu unserem Vorhaben ist und große Wirkung erzielt hat: In der gesamten Stuttgarter Innenstadt herrscht aufgrund des ganzheitlichen Bildes, das durch die Messwerte entstanden ist, jetzt ein Tempolimit von 40 km/h.

An welchem Punkt steht das Projekt aktuell?

Mit unseren ersten Messungen konnten wir bereits ein klareres Bild über den Zustand des Flusses gewinnen. Wir haben einen Prototyp für die mobilen Messboxen gebaut, die Bürger*innen vor Ort verwenden können, um selbst Daten über die Wasserqualität zu sammeln. Der Prototyp steht kurz vor der Serienreife – er ist funktionsfähig und befindet sich derzeit in der Test- und Vorbereitungsphase für den Einsatz in der Praxis.

Außerdem haben wir eine App entwickelt, die bald veröffentlicht wird und die es Bürger*innen ermöglicht, ihre eigenen Messungen durchzuführen und die Ergebnisse in Echtzeit zu sehen.

Wie genau funktioniert diese App?

Nutzer*innen können über die GPS-Daten ihres Geräts ihren Standort angeben und die Messwerte ihrer mobilen Messbox, die über Bluetooth verbunden ist, direkt in die App einspeisen. Es gibt auch die Möglichkeit, sogenannte „weiche Daten“ hinzuzufügen – also subjektive Beobachtungen wie die Wasserfarbe, Gerüche oder die Uferbeschaffenheit. All diese Informationen fließen in ein umfassendes Protokoll zur Gewässerqualität ein, das für alle zugänglich ist. Mithilfe der App lässt sich der Zustand des Flusses visualisieren und durch eine Verknüpfung mit dem Webauftritt mit der breiten Öffentlichkeit teilen. Die Ergebnisse könnten zum Beispiel in Schulen genutzt werden oder auch für journalistische Berichterstattung und in der Politik.

Das Projekt setzt auf die Einbindung der Zivilgesellschaft. Wie können Bürger*innen sich noch beteiligen?

Interessierte Gruppen und NGOs können sich melden, um eine unserer Messboxen zu erhalten. Wir würden diese zunächst unseren direkten Partnern zur Verfügung stellen. Damit verbunden ist eine gewisse Begleitungsintensität: Wir werden Workshops durchführen, um die Nutzung der Geräte zu erklären und Testmessungen durchzuführen.

Was sind Ziele für die Weiterentwicklung des Projekts, soll es z. B. auch in anderen Regionen/Gewässern eingesetzt werden?

Das Konzept lässt sich natürlich auf jedes Gewässer in jeder Region und in jedem Land anwenden – und wir haben jetzt schon viele Anfragen. Wenn wir das Projekt hier an der Oder realisieren und finanzieren können, würde ich es von Herzen gern auch anderen Teilen der Welt zugänglich machen. Wir wollen es als Open-Source-Lösung anbieten, die auch andere Länder nutzen und adaptieren können, um ihre eigenen Gewässer zu schützen.

Was waren bisher die größte Herausforderung und der größte Erfolg?

Die größte Herausforderung ist tatsächlich – auch in Kombination mit dem größten Erfolg – die Motivation weiterzumachen. Sich von den Durststrecken, Absagen und erfolglosen Versuchen, Kontakte zu knüpfen, an Daten zu gelangen oder finanzielle Unterstützung zu bekommen, nicht entmutigen zu lassen, ist für mich persönlich die größte Herausforderung.

Zu den größten Erfolgen gehört für mich beispielsweise, wenn ein Kontakt, den ich unbedingt aufbauen wollte und monatelang hartnäckig verfolgt habe, tatsächlich zustande kommt, oder wenn das Thema eine Bühne erhält.

Hast du Tipps, die du anderen mit auf den Weg geben möchtest, die selbst vor der Entwicklung oder Umsetzung eines gemeinwohlorientierten KI-Projekts stehen?

Wenn du ein Ziel und eine Idee hast, lohnt es sich aus meiner Erfahrung immer, diesen Weg weiterzuverfolgen und sich nicht entmutigen zu lassen. Mich hat immer angetrieben, dass ich meinen Kindern eine nachhaltigere und saubere Zukunft bieten möchte. Das kann ich nicht allein schaffen, aber ich weiß, dass es sehr viele Menschen da draußen gibt, die ähnliche Ideen haben und mit denen ich diesen Weg gemeinsam gehen kann. Die Oder ist ein paradiesisches, artenreiches Gebiet, und es liegt an uns, dieses Naturparadies für kommende Generationen zu erhalten.

Vielen Dank für das Gespräch und die spannenden Einblicke!

Hinweis: Das Interview fand im Juli 2024 statt und bildet den Stand des Projekts zu diesem Zeitpunkt ab.

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